Frau Fricke wundert sich über Yoko Ono

Vielleicht hat es keiner bemerkt, aber der Attentäter von Halle hatte eine Shopping List. Die hatte er vorher im Netz veröffentlicht. Darauf standen Juden. Ausländer. Und Frauen. Nur eine dieser Zielgruppen hat tatsächlich ein Todesopfer zu beklagen. Es war das erste. Und keiner schreibt auch nur eine Zeile darüber.

„Loser“, so hat er sich selbst genannt, der Attentäter von Halle. Eine Selbsteinschätzung, der wohl keiner widersprechen mag, nach allem, was man so liest. Und man liest ja viel in den letzten Tagen.

Man liest von einem Waffenarsenal. Wer es vorher noch nicht wusste, der weiß jetzt, dass man sich Waffen im 3-D-Drucker ausdrucken lassen kann. Der Zusammenbau ist nicht ganz einfach. Auch davor kann man sich warnen lassen. Genau genommen ist er so kompliziert, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Ex-Chemiestudent ohne größere Ambitionen das alleine hingekriegt hätte. Wir lesen also auch, dass er ganz so allein wohl nicht war. Und wir lesen, dass der Attentäter einen Spender hatte, der ihm eine kleinere Bitcoin-Summe überwiesen hat. Nur diesem Umstand ist es zu verdanken, das ich den aktuellen Umrechnungskurs des Bitcoins weiß. Denn auch der war zu lesen.

Was wir auch über die Waffen wissen: Die taugen nicht viel. Bei dem Versuch in eine Synagoge einzudringen, ist der Honk von Halle kläglich gescheitert. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Er hat auf die Tür geschossen, hinter der sich die Gemeinde gerade ziemlich zahlreich versammelt hatte, um Yom Kippur zu feiern. Wer’s nicht weiß: Yom Kippur ist eine Art Informations-Detox. Keine Handies, kein Gedöns. Man ist mit Gott und sich selbst allein und versucht mit beiden ins Reine zu kommen. Und offenbar hatte Gott gute Laune, als er die Synagogentür nur mäßig splittern ließ.

Der Honk von Halle hatte richtig miese Laune

Nichts, gar nichts klappt. Die einfachsten Sachen kriegt er nicht auf die Reihe. Und das vor Publikum, vor dem er doch eigentlich brillieren wollte. Wurde natürlich alles live gestreamed. Scheiß Juden! Nur wegen denen sieht er jetzt aus wie ein Vollidiot. Aber da kommt – genau zum richtigen Zeitpunkt ein neues Ziel. Und auch das steht auf seiner Shopping List. Eine Frau! Die ist durch keine Tür geschützt. Die läuft ihm genau vor die Flinte. Die wagt es auch noch, ihn anzupaulen. Vor laufender Kamera. Nervt. Die. Alte. Erlaubt sich eine Meinung über ihn. Verhält sich unangemessen. Steht eh auf seiner Liste und bäng. Weg ist sie.

Check. Endlich klappt hier mal was.

Wir wissen auch, dass sein nächstes Ziel Ausländer waren. Wir wissen das aus der Presse und die weiß das aus dem offenbar üblichen vor der Tat veröffentlichten Manifest. Auch das Ziel hat er verfehlt. In den Döner-Imbiss ballern muss reichen. Auch schon egal. Ab sofort ist jeder sein Feind. Und natürlich darf geschossen werden.

Juden. Frauen. Ausländer

In den folgenden Tagen wird viel geschrieben und noch mehr diskutiert.
Wie kann es sein, dass in Deutschland – ausgerechnet in Deutschland – Juden wieder Angst haben müssen, Juden zu sein?

Wie ist es möglich, dass da jemand ungestört in der Döner-Bude rumballert?
Haben wir denn gar nichts aus den NSU-Morden gelernt?

Nur eine Zielgruppe wird nicht diskutiert. Dabei war sie ausdrücklich genannt worden. Dabei war sie die erste, die dran glauben musste. Frauen.

Zwei Tote hätte es gegeben. Zwei Passanten, lese ich,  wären dummerweise in die Schusslinie geraten. Blöd aber auch. Und falsch. Denn als dieser Mann diese Frau erschoss, da hat er keinen Passanten erschossen. Er hat eine Frau erschossen. Ganz gezielt. Weil er eine Liste hatte. Und die wollte abgearbeitet werden. Weil er ein Publikum hatte. Und dessen spezifische Bedürfnisse wollen befriedigt sein.

„Woher kommt der Hass?“ fragte eine Publikation kürzlich und bezog sich damit auf Ausländer und Juden.

Woher der Hass auf Frauen kommt, fragt kein Mensch. Is eben so.

Dabei – ich sage es gern noch einmal – hat der Hallenser Hobo ausdrücklich auf sie Bezug genommen. Und er ist nicht der erste.
– Als 1989 Marc Lepín an der Hochschule von Montreal Amok lief, tötete er gezielt 14 Frauen und verletzte weitere 14.
– Im April 2018 fährt ein 25jähriger Mann in Toronto mit einem Lieferwagen in eine Menge. Zehn Menschen werden getötet, 15 verletzt. Was ihn dazu trieb, schreibt er nur Minuten zuvor im Internet: Die „Incel Revolution“ hätte begonnen und er würde jetzt alle „Chad and Stays“ niedermähen. „Incel“ steht für unfreiwillig sexlos und „Chad und Stacy“ ist Code für Leute, die es irgendwie schaffen, Sex zu haben.

Männer, die Amok laufen und es dabei gezielt auf Frauen abgesehen, oder ihren Hass auf Frauen als Grund angegeben haben, sind nicht die Ausnahme. Sie sind die Norm. Darunter der Mann, der in Dayton vor kurzem neun Menschen erschoss. Und der Mann der 2016 in Orlando 49 Menschen erschoss. Beide waren, wie auch der Mann, der 2017  in einer texanischen Kirche 26 Menschen erschoss und der DC Sniper wegen häuslicher Gewalt vorbestraft. Wir haben es hier also nicht mit einer exotischen Spielart zu tun, die bei der allgemeinen Frage nach Präventionsmaßnahmen zu vernachlässigen wäre. Wir haben es mit einem Prinzip zu tun. Und wer sich die Frage stellt, woher der Hass kommt, findet die Antwort auf zahllosen Facebook-Seiten und Internetforen, wo die Scheidungsopfer, die Ungefickten, die Ödipussis, ungehemmt auf eine Spezies eindreschen, die sie nurmehr von dreiminütigen Besuchen auf Pornokanälen kennen. Und keinen stört’s.

Juden. Frauen. Ausländer.
Alle drei stehen auf der Abschussliste. Schwarz auf weiß. Nachweislich.

Aber während es Mahnwachen vor Synagogen gibt und warme Worte für Menschen mit Migrationshintergrund, hat den 40 Millionen Frauen offenbar keiner was zu sagen. Die fragen auch nicht.

Auf die Frage „Merkst du noch was?“ müssten hier selbst die potentiellen Opfer sagen: „Nee, ehrlich gesagt, hatte ich das nicht gemerkt, dass ich da ja tatsächlich genauso auf der Liste stand wie Juden oder Ausländer.“

Warum ist das so? Haben wir uns so daran gewöhnt, dass Frauen auf Abschusslisten stehen, dass wir das gar nicht mehr wahrnehmen? Sind wir nicht mal mehr selber in der Lage, Mahnwachen für uns zu organisieren?

Wieso fordern Frauen nicht, was Juden und Ausländer infolge dieses Attentats völlig zu Recht fordern: Dass Staat und Gesellschaft sie schützen? Denken wir, wir hätten kein Recht, diesen Schutz zu fordern? Denken wir, wir hätten ihn nicht nötig? Nach all dem, was wir wissen? Nach all dem, was wir lesen? Nachdem wir ausdrücklich auf dieser Liste standen. Und auf vielen Listen, der Vergangenheit. Und auf vielen, die jetzt genau in diesem Moment im Netz kursieren und nur noch auf die richtige Anzahl von Likes warten, um zur Explosion gebracht zu werden?

Warum gibt es keine Gesprächsrunden über die Gefahrenlage für Frauen durch rechte untervögelte Honks? Warum gibt es keine Partei, die sich dessen annimmt, keine Polizeioffensive zur Prävention, kein Expertengremium?

In seiner berühmten Rede „What is a Nigger“ gab Malcolm X seine Definition eines Menschen, der sich so an seinen Status als Unterlegener gewöhnt hatte, der sich selbst so wenig Bedeutung und Wert beimaß, dass er sich nicht einmal in Sicherheit bringen würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Auch nicht, wenn er auf einer Abschussliste steht.

Es hat 50 Jahre gedauert, aber ich denke, ich hab jetzt verstanden, was Yoko Ono und John Lennon mir sagen wollten mit

Woman is the Nigger of the world